Liebe Alice, du hast den Brief an dich selbst geschrieben, als du noch bei klarem Verstand warst …

22. Mai 2011

Alice Howland ist 50 Jahre jung und angesehene Professorin an der Havard Universität. In ihrem Fachgebiet – der kognitiven Psychologie – ist sie brilliant und vielgebuchte Vortragende. Bei einer ihre Vortragsreisen steht sie eines Tages am Rednerpult und ein mehr als triviales Wort will ihr nicht einfallen – „Lexikon“. Das kann jedem passieren, denkt man als Leser um sogleich atemlos mitzuverfolgen, wie sie kurz darauf bei ihrer täglichen Joggingrunde an der Kreuzung steht und nicht mehr weiß, ob sie links oder rechts die Straße rauf wohnt. Es folgen kleine Aussetzer, wie z.B. Vorlagen, die sie vergaß an einen Kollegen zu schicken (weil sie nicht mehr wußte, wer der Kollege war), sie stellt sich einer Dame vor, mit der sie gerade mal 5 Minuten zuvor ein kurzes Gespräch geführt hat, sie setzt sich in den volle Hörsaal in die Reihe der Schüler und wartet geduldig auf den Vortragenden, ohne zu ahnen, dass SIE die Vortragende ist usw. Bald wird ihr klar, dass mit ihr etwas nicht stimmt und nach einigen medizinischen Tests, liegt das erschreckende Ergebnis am Tisch: frühzeitiges Alzheimer, eine Erkrankung, die genetisch bedingt ist! Nicht nur, dass sie selbst also sukzessive den Verstand verliert, auch ihre drei Kinder sind potenziell gefährdet.

So beschließt Alice sich selbst möglichst viele Eselsbrücken zu bauen und ihre Merkfähigkeit täglich zu prüfen. Ihr Blackberry wird ihr wichtigster Begleiter und der tägliche Fragen-Check gibt ihr Gewissheit. „Welchen Monat haben wir?“ „Wo wohnst du?“ „Wo arbeitest du?“ Wann ist Annas Geburtstag?“ „Wieviele Kinder hast du?“ Als Leser wird man alle paar Seiten Zeuge ihres schwindenden Verstandes, denn da, wo zu Beginn alle Daten exakt angeführt werden, steht am Schluss nur mehr Fragmentarisches.

Das Erstlingswerk von Lisa Genova ist atemberaubend dramatisch und real aus der Sicht der Erkrankten geschrieben. So wiederholen sich plötzlich im Text ganze Passagen, eben weil die Protagonistin Alice selbst von einem Moment auf den anderen vergessen hat, dass sie diesen Satz gerade von sich gab. Mit jeder Seite, schwindet das Leben aus Alice‘ Gedächtnis ein Stückchen mehr und man kann bereits schaudernd erahnen, wo es enden wird.
Dieses Buch wird jenen gefallen, die Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ gelesen haben. Dieses Buch hat mich persönlich sogar noch tiefer berührt, weil es keinen wirklich alten Menschen trifft, sondern eine Frau, die in der Blüte ihres Lebens ihrer Intelligenz beraubt wird.

Mein Leben ohne Gestern
von Lisa Genova, ISBN: 978-3785760161

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