Bildungsunterricht der besonderen Art

9. November 2018
Schon mit seinem Buch „Homo Deus“ konnte Yuval Harari ein breites Publikum begeistern, nicht zuletzt deshalb, weil er es schafft Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem verständlichen Bild zusammenzusetzen. In seinem neuen Buch fühlt man sich in einen Hörsaal versetzt, wo vorne weg ein Professor seinen Vortrag hält. Dies gelingt ihm auf derart spannende Weise, dass seine „Schüler“ – wir Leser – im gebannt an den Lippen hängen, um mehr zu erfahren von diesem Mann, der ganz offenbar über wirklich viele Dinge nachdenkt:
  1. Desillusionierung
    Der Mensch lebte immer nach Erzählungen, die ihm sagten, wo er hingehört – im Guten wie im Schlechten. Faschismus, Kommunismus, Liberalismus sind solche Geschichten, die Halt gaben. Die ersten beiden Geschichten sind kollosal gescheitert, und die dritte – der Liberalismus – ist gerade im Begriff sich aufzulösen. So suchen jetzt alle nach einer neuen Geschichte, an der wir unser Leben ausrichten können. Diese aktuelle Orientierungslosigkeit erzeugt Spannungen, die in alle Bereiche des Lebens hineinwirken.
  2. Arbeit
    Zwei Leistungen konnte der Mensch immer verkaufen: physische und kognitive Arbeit. Die körperliche Arbeit wurde mehr und mehr durch Maschinen ersetzt und jetzt droht das auch mit der kognitiven Arbeit. Was kann der Mensch dann noch anbieten? Die potenziellen Vorteile einer künstlichen Intelligenz gegenüber dem Menschen sind Konnektivität und Aktualität. KIs können sich miteinander vernetzen und gleichzeitig auf den neuesten Stand gebracht werden. Eine (Um-)Lernphase ist damit obsolet. Wofür Menschen vielleicht Jahre brauchen – nämlich sich an die neuen Arbeitsbedingungen anzupassen – das macht eine KI quasi über Nacht.
  3. Freiheit
    Die Macht verschiebt sich vom Menschen zum Algorithmus und damit auch die Frage, wie frei wir sind. So hat man sich in der Vergangenheit gesund gefühlt, solange nichts weh tat. In Zukunft werden Sensoren schon erkennen, dass man krank ist, bevor wir es spüren. Werden wir auf diese Weise gesünder? Dabei müssen Algorithmen gar nicht perfekt sein, es genügt schon, wenn sie besser sind als wir. Die Folge: früher oder später treffen sie für uns die Entscheidungen (was wir freudig zulassen). Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Bewusstsein ist die Fähigkeit, etwas zu empfinden.  Wie frei sind wir also noch, wenn ein Algorithmus alles besser weiß und kann, als wir? Es droht eine digitale Diktatur, wobei wir nicht unter Ausbeutung leiden werden, sondern unter Bedeutungs- und Nutzlosigkeit.
  4. Gleichheit
    Eigentum war schon immer die Voraussetzung für Ungleichheit. Niemand käme heute auf die Idee sein Land oder sein Hab und Gut für ein paar Perlen oder Glassteine zu tauschen. Unsere Daten hingegen verschenken wir für Katzenvideos. Bald schon wird Google auf alles die richtige Antwort haben, dann brauchen wir keine Werbespots mehr, die uns suggerieren, was wir begehren sollen, weil der Algorithmus Entscheidungen aufgrund unserer Daten trifft – 100 % Macht! Die Gleichheit verschiebt sich also insofern, dass ein Unternehmen (oder vielleicht fünf) auf der ganzen Welt die Macht über die Menschheit besitzen. Wir sollten also sehr genau aufpassen, wem wir Informationen über uns preisgeben und zu welchem Preis. Es könnte durchaus sein, dass wir erneut mit Glassteinen handeln.
  5. Gemeinschaft
    Gemeinschaften zerbröseln, weil die Menschen lieber auf das Handy starren. In einer physischen Community erhält man Trost oder Glückwünsche durch spürbaren Kontakt. (Ein Händedruck, ein Schulterklopfen, eine Umarmung) In der Online-Community wartet man auf Likes, die nicht wirklich spürbar sind. Der menschliche Körper mit all seinen Sinnen verliert an Bedeutung und während die Menschen 418 Freunde haben, wundern sie sich, dass sie alleine sind.
  6. Zivilisation
    Trotz aller nationalen Unterschiede ist es doch erstaunlich, was 200 Staaten auf der Welt eint: Sie haben eine Flagge, sie haben eine Hymne, sie verständigen sich auf einer bestimmten politischen Grundlage – z.B. der UNO, alle haben die gleiche Vorstellung von Geld, es gibt medizinische Grundlagen, die es ermöglichen eine bestimmte Krankheit überall gleich zu behandeln. . So viel Einigkeit hat es zu keiner anderen Epoche der Weltgeschichte gegeben. Das sollte uns zuversichtlich stimmen, weil es uns sagt: es gibt nicht viele Zivilisationen, die die Welt bevölkern, sondern nur eine.
  7. Nationalismus
    Eine gesunde Portion Patriotismus hält ein Gefüge aufrecht und eine Gemeinschaft zusammen. Zu sagen, meine Nation ist einzigartig, richtet noch keinen Schaden an. Erst wenn es heißt, meine Nation ist überlegen, entstehen Konflikte. Und während Nationen einander mit der Atombombe bedrohen und dabei irrsinniger Weise eine gewisse Stabilität erzeugen, ist die Bedrohung durch den Klimawandel etwas anderes. Er kann nämlich keiner Nation zugeschrieben werden und er macht auch vor keiner Grenze Halt. Ebenso verhält es ich mit der technologischen Disruption – sie lässt sich nicht auf Nationen beschränken. Was es also braucht ist eine globale Identität und Loyalität, um Umwälzungen dieser Größenordnung zu bewältigen. Es braucht moralische Grundprinzipien, die weltweit Gültigkeit haben. Wir haben drei Fronten, an denen die Menschheit kämpfen wird – die militärische, die technologische und die ökologische – ein unlösbares Problem im nationalen Sinn.
  8. Religion
    Die Religion hat nichts zu bieten, was unsere globalen Probleme lösen kann. Ganz einfach, weil es keine jüdische Atombombe gibt und keinen katholischen Klimawandel und auch keine muslimische Disruption. Und jeder Versuch die Religion in die Jetzt-Zeit zu holen scheitert an Staaten, die die Religion dann an ihr Gefüge anpassen wollen.
  9. Zuwanderung
    Terrorismus ist die Waffe eines randständigen schwachen Teils der Menschheit. Und obwohl es eine Minderheit ist, fürchten wir uns davor. Die Frage nach den europäischen Werten geht unter im Geschrei von links und rechts. Wegen ein paar Millionen Menschen riskiert ein Kontinent mit 500 Millionen Bürgern den Zerfall – aus Angst!
  10. Terrorismus
    Der Terrorismus versucht nicht größtmöglichen Schaden anzurichten, sondern größtmögliche Angst zu erzeugen. Im Vergleich zu konventionellen Kriegen ist Terrorismus eine Fliege. Wie kann eine Fliege einen Porzellanladen zerstören? Indem sie den Stier reizt, der alles für sie niedertrampelt.
  11. Krieg
    Früher konnte man mit Kriegen große Gewinne einstreifen, Ressourcen, Land, Sklaven. Heute sind die größten Ressourcen digitaler Natur und da nützt kein Panzer. Und seit der Existenz der Atombombe ist den Großmächten auch bewusst, dass es keinen Sieger geben kann. Doch all dieses Wissen nützt nicht vor der Dummheit der Menschen. Der neu erstarkte Nationalismus ist so eine Dummheit.
  12. Demut
    Die meisten Nationen glauben wohl, dass sie unentbehrlich sind, viele Völker sind der Meinung, dass sie das wahre Ebenbild Gottes darstellen und die Religionen im Speziellen behaupten ohnedies, dass ihr Gott der einzig Wahre sei. Jede Religion versucht für sich die großen Leistungen der Menschheitsgeschichte zu beanspruchen und die weiße Rasse glaubt sogar, dass sie die Herrenrasse sei. Würden alle einen Schritt zurücktreten und sich ein wenig in Demut üben, wären viele Konflikte vermeidbar.
  13. Gott
    Es gibt so viele große Fragen, auf die wir keine Antwort haben. Und diesem Nichtwissen geben wir einen Namen: Gott. Dass dieser Name für alles herhalten muss, was wir rechtfertigen wollen (im Namen Gottes), ist wohl einer der größten Irrtümer der Menschen. Der Moralkodex, den eine Gesellschaft braucht, um friedlich leben zu können, braucht keinen Gott an der Spitze.
  14. Säkularismus
    Die wichtigste säkulare Verpflichtung gilt der Wahrheit, die auf Beobachtung und Evidenz und nicht auf bloßem Glauben basiert. Säkulare verherrlichen kein Buch und auch keine Person, sondern die Wahrheit, wo immer sie sich offenbart. Wahrheit-Mitgefühl-Gleichheit
    Die säkulare Welt beurteilt Menschen nach ihrem Verhalten und nicht nach ihren Kleidervorschriften. Sie bringt Kindern bei Wahrheit von Glauben zu unterscheiden, Mitgefühl für alle Lebewesen zu empfingen und die Erfahrungen aller zu schätzen. Säkulare schätzen die Unwissenheit und gestehen sie auch ein. Sie lassen folgende Frage zu: Was ist der größte Fehler, den Ihre Religion, Ihre Ideologie, Ihre Weltanschauung begangen hat? – Wer darauf antwortet, dass es keinen Fehler gäbe, dem darf man nicht trauen!
  15. Nichtwissen
    Als Individuum wissen wir ziemlich wenig. Erst als Kollektiv bringen wir Großes zustande. Das Vertrauen auf das Wissen anderer hat uns erstaunlich weit gebracht. Doch Gruppendenken bringt auch Problem, was wir derzeit in Filterblasen erleben.
    „Wer es sich nicht leisten kann, Zeit zu verschwenden, der wird die Wahrheit niemals finden.“ Revolutionäre Erkenntnis schafft es nur schwer in die Mitte, denn diese besteht aus bereits existierendem Wissen. Wer einen Hammer in der Hand hält, für den sieht alles wie ein Nagel aus.
  16. Gerechtigkeit
    … ist angesichts der Komplexität vieler Probleme nur noch schwer zu finden. Wer hat Schuld am Klimawandel und sollte dafür bestraft werden? Ist der Krieg in Syrien gerecht? Ist es fair, billige Kleidung zu kaufen? Wir müssen uns unendlich viele Informationen holen, um exakt feststellen zu können, was gerecht ist.
  17. Postfaktisch
    „Wenn man eine Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, wird man sie am Ende glauben.“ (Goebels)
    „Alle Propaganda wird zu keinem Erfolg führen, wenn ein Grundsatz nicht berücksichtigt wird: Sie hat sich auf wenig zu beschränken und dies ist ewig zu wiederholen.“ (Hitler)
    Fazit: Macht und Wahrheit scheinen inkompatibel zu sein.
  18. Science-Fiction
    Leben wir in einer Matrix? Wohl kaum, aber unser Gehirn hat die Möglichkeit sich alles vorzustellen, so auch die Reise zu den Fidschi-Inseln, ohne jemals dort gewesen zu sein.
  19. Bildung
    Kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration und Kreativität – das sind die vier Ks, die gelehrt werden sollten. Es braucht Werkzeuge, um mit den Veränderungen umzugehen, denn heute kann keiner sagen, was 2050 noch gebraucht wird – also muss in erster Linie das Lernen gelehrt werden. Bislang wurde das Leben immer in zwei Phasen geteilt: in die Phase des Lernens, gefolgt von der Phase der Arbeit. Mitte des 21. Jahrhunderts wird dieses Modell obsolet sein. Wer an Stabilität festzuhalten versucht, verliert den Anschluss. Umfassendes Unwissenheit wird kein Fehler, sondern ein Grundmerkmal sein. Dem Wissen der Altforderen ist nicht mehr zu trauen, weil es uns keinen Dienst mehr erweisen wird, in einer Welt, wo eine KI alles besser weiß.
  20. Sinn
    Um im Leben Sinn zu finden, braucht es eine Geschichte, die uns eine Rolle zuweist. Und sie muss Horizonte überwinden. Die Geschichte muss uns in etwas einbinden, das größer ist, als das ich. Wenn wir an eine bestimmte Erzählung glauben, sind wir für alles, was aus dem Rahmen fällt, blind. Zu glauben, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, ist so eine Geschichte, die vielen Menschen Sinn verleiht. Die Theorie leidet unter zwei Problemen: a) Meine Geschicht wird nicht sinnvoller, nur weil ich ewig lebe. Sie wird nur länger. b) Sie lässt sich nicht beweisen und gibt uns auch keine Theorie, dass wir nicht als Frosch wiedergeboren werden. Eine gute Geschichte weist mir also eine Rolle zu und übersteigt meinen Horizont, aber sie muss nicht unbedingt wahr sein. Das Universum funktioniert nicht wie eine Erzählung. Doch wie macht man Geschichte glaubhaft? Durch Rituale. Daraus resultiert: Das Universum gibt mir keinen Sinn, sondern ich gebe dem Universum Sinn. Die 1. Antwort auf die Frage „Wer bin ich“ ist: Du bist keine Geschichte, du bist eine flüchtlge Schwingung.
    Lt. Buddha gibt es drei Daseinsmerkmale:
    Alles verändert sich fortwährend.
    Nichts besitzt einen dauerhaften Wesenskern.
    Nichts ist vollkommen zufriedenstellend.
    Das Leid entsteht, weil die Menschen das nicht einsehen wollen.
  21. Meditation
    Das eigentliche Rätsel des Lebens ist nicht, was geschieht, wenn wir tot sind, sondern was geschieht, bevor wir sterben.
    Die Wissenschaft verwechselt Geist mit dem Gehirn. Dabei ist das Gehirn ein materielles Netzwerk und der Geist ein Fluss subjektiver Erfahrungen.
    Mediation ist ein Werkzeug, um dem Geist zu begegnen. Den Geist zu erforschen erfordert genausoviel Anstrengung, wie zum Mond zu fliegen oder auf einer fremden Insel eine Zivilisation zu erforschen. Es erfordert Ausdauer, Zeit und Training. Wir sollten in all das investieren, bevor Algorithmen uns das Denken abnehmen.
21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, 
Von Yuval Noah Harari, ISBN 978-3-404-72778–8

No Comments

Comments are closed.