Die Corona-Pandemie als Brandbeschleuniger eines gesellschaftlichen Wandels?

16. April 2021
Wenn die 2020/2021 vorherrschende Pandemie eines gezeigt hat, dann, dass mit der Gesellschaft etwas nicht in Ordnung ist. Anders lässt sich nämlich nicht erklären, warum es Menschen gibt, die nicht nur Corona als Schnupfen abtun, sondern gleich den ganzen Staat als Pakt von Lügnern bezeichnet. Wörter wie Diktatur und Faschismus werden plötzlich in einem Kontext verwendet, der so gar nichts mit der ursächlichen Bedeutung des Begriffs zu tun hat und das alles, weil wir derzeit dazu aufgerufen sind, Disziplin zu wahren, auf den anderen zu schauen und einen Mundschutz zu tragen.
Richard David Precht gibt mit seinem vorliegenden Buch „Von der Pflicht“ eine ausgezeichnete Erklärung dafür ab, warum genau diese Pflicht von immer mehr Bürgern nicht mehr gesehen, bwz. als lästig empfunden wird. Er erklärt zum einen, was das Wort Pflicht im Zusammenhang mit der Staatspflicht zu tun hat, er erklärt aber auch, dass es eine Bürgerpflicht gibt, ohne die nun mal kein Staat zu machen ist. Es ist eine Sache der Freiwilligkeit also, und eine von Moralempfinden gegenüber seinen Mitmenschen. Und genau da bröckelt die Fassade.
Anhand der deutschen Gesetzgebung bekommt der Leser einen Einblick in die Sachlage der Grundrechte eines Menschen und wie schwer es für den Staat ist, abzuwiegen, welches Grundrecht mehr Gültigkeit hat: jenes der Freiheit der Bürger, ohne jenes, die Bürger vor Gefahren zu schützen.
Darüber hinaus zeigt der Autor ziemlich schonungslos auf, wie es um unsere Gesellschaft an sich bestellt ist, seit der Idee des Kapitalismus nur noch darauf aus ist, den eigenen Vorteil zu forcieren, anstatt das Gemeinwohl zu berücksichtigen.  Es ist, so der Autor, sogar so, dass selbst der Staat mittlerweile als Dienstleister gesehen wird, und wir sind die Konsumenten/Kunden, die nur eines wollen: für uns selbst das Beste. Mehr noch: Gesellschaften werden umso maroder, je mehr sich ihre Bürger nur noch mit dem persönlichen Vorteil beschäftigen. Die „Ich-AG“ ist also ein Modell, das kein „Wir“ mehr zulässt.
Sein Vorschlag gegen den moralischen Verfall ist, dass jeder Mensch ausnahmslos zweimal in seinem Leben eine Art soziales Pflichtjahr zu absolvieren hat: in jungen Jahren nach dem Schulabschluss und nach dem Pensionsantritt. Für diese Idee, die er schon vor ein paar Jahren einmal skizziert hatte, wurde er massiv kritisiert, weil es eben unserer Gesellschaft an einem ganz besonders fehlt: an der Fähigkeit für die Gemeinschaft Werte zu etablieren, die nichts mit dem persönlichen Vorteil zu tun haben, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen und diese dann zu tragen.

Von der Pflicht, von Richard David Precht, ISBN: 978-3-442-31639-7

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